WR892 Die Gilets Jaunes

Seit Ende Oktober 2018 beobachten wir in Frankreich eine neue Protestbewegung: Die Gilets Jaunes (Gelbwesten).

In Folge 888 haben wir einen Einblick in den deutschen Ableger dieses Phänomens bekommen, in Frankreich sind Bewegung und Motivation aber etwas komplexer. Der Spiegel-Journalist Nils Minkmar war so freundlich, mir ein wenig über Frankreich und dessen gelbe Westen zu erzählen.

Minkmars Artikel im Spiegel

3 Gedanken zu „WR892 Die Gilets Jaunes

  1. quinoa

    Oh, das ist ein tolles Geschenk zum dritten Advent! Ich hatte die erste Folge von dir über den deutschen Ableger gehört, war im ersten Moment enttäuscht, weil ich mehr über die französische Bewegung lernen wollte; dann hat mich der erste Teil aber doch gepackt. Morgen auf der Pendelfahrt höre ich dann in diese Folge rein!

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  2. stefen

    Hallo,

    etwas zeitversetzt habe ich heute diesen Podcast gehört. Ich finde es immer interessant, wenn jemand aus Deutschland über Frankreich berichtet und umgekehrt. Diese Perspektiven beleuchten die aktuelle Politik oft mit einem gewissen Abstand, der bereichernd sein kann.

    Ich selbst lebe seit 30 Jahren in Frankreich. Seit ungefähr 12 Jahren bin ich Mitglied des Vereins actuchomage.org, der sich für die Interessen von prekär Beschäftigten und Arbeitslosen einsetzt. Dadurch habe ich einen guten Einblick in die Probleme von Geringverdienern, Arbeitslosen und das Sozialsystem Franreichs gewonnen, sowohl durch mein Engagement in dem Vereins als auch als Betroffener (Arbeistloser und prekär Arbeitender)

    Ich kenne mich mit dem französischen Arbeitsamt (früher ANPE = agence nationale pour l’emploi, heute Pôle Emploi) und den verschiedenen sozialen Minima aus, habe gelernt, wie die Ämter funktionieren.

    Dass Arbeitslose Bürger in Frankreich Arbeitslosengeld und Sozialhilfe ohne eine Gegenleistung und ohne Kontrolle bekommen, wie Nils Minkmar es darstellt hat, kann ich so nicht stehenlassen. Die Arbeitslosen werden auch hier teilweise gegängelt, ihre Finanzen, Kontoauszüge der letzten drei Jahre durchforstet usw.

    Bei “Vergehen” wie das Nichterscheinen zu einem Termin, der in Frankreich “Vorladung” (convocation) heißt und auch eine Vorladung ist, oder bei ungenügender Jobsuche, bei Nichteinhaltung der Eingliederungsvereinbarungen (PPAE = projet personnalisé d’accès à l’emploi, oder PARE = projet d’action de retour à l’emploi) die man sich nicht unbedingt aussuchen kann, wird das Arbeitslosengeld gestrichen oder gekürzt. Auch bei der Streichung und Kürzung der Sozialhilfe (früher RMI = revenu minimum d’insertion, heute RSA = revenu de solidarité active) sind die Ämter immer schärfer geworden.

    Um Sozialhilfe zu bekommen, muss man mindestens 25 Jahre alt sein. Ist man jünger, ist das halt Pech.

    Bekommt man Sozialhilfe, hat man Verpflichtungen, die bei Nichteinhaltungen sanktioniert werden: eine Kürzung bis 80% oder die Streichung für 1 bis 4 Monate. In “schweren” Fällen kann die Sozialhilfe definitiv gestrichen werden:

    https://www.aide-sociale.fr/suppression-rsa/

    Hier ein paar Zahlen zu den Sanktionierungen von Arbeitslosen in den letzten drei Monaten des Jahres 2017 (eine Streichung des Arbeitslosengeldes ist auch der Verlust des sozialen Status):

    Dezember 2017: 46.600
    https://dares.travail-emploi.gouv.fr/IMG/pdf/di-mensuel_fdimbpt.pdf

    November 2017: 46.900
    https://dares.travail-emploi.gouv.fr/IMG/pdf/di-mensuel_iwuhny.pdf

    Oktober 2017: 47.200
    https://dares.travail-emploi.gouv.fr/IMG/pdf/di-mensuelbadptdi.pdf

    Das sind die offiziellen Zahlen der Regierung. Ich habe mal drei Monate genommen, um die Anzahl der Arbeitslosen, die zu 100% sanktioniert wurden, zu schätzen (bin zu faul, das für 12 Monate nachzusehen…).

    Sagen wir mal gering geschätzt 45.000 pro Monat, mal 12, das macht 540.000 für das Jahr 2017, eine gute halbe Millionen Menschen, denen als Sanktion das Arbeitslosengeld komplett gestrichen worden ist.

    Es gibt ähnlich ẅie in Deutschland “Beschäftigungstheapien” (Maßnahmen) für Arbeitslose, wie Bewerbertraining und andere “Weiterbildungen”, die das Arbeitsamt an private Firmen auslagert und dem Arbeitslosen aufgedrückt, was für den Betroffenen nicht immer sinnvoll ist.

    Eine Freundin, die früher als Chefsekretärin gearbeitet hat, hat insgesamt an 14 (!) solchen Weiterbildungen teilnehmen müssen, wo man ihr z.B. den Umgang mit Word gelehrt hat (das sie in- und auswendig kannte) oder wie man eine gute Bewerbung schreibt (sie war total fitt in Ausdruck, Rechtschreibung, Formulierung). Ihr einziger “Fehler” war, “zu alt” zu sein, und das kann man nicht korrigieren.

    Wie die Leute behandelt werden, hängt stark vom jeweiligen Arbeitsberater und von dem Druck, den der Berater von seinen Vorgesetzten erfährt, ab. In den letzten Jahren sind neue Kontrolleinheiten geschaffen worden, die überprüfen, ob sich die Leute bei der Arbeitsuche genug Mühe geben.

    http://www.economiematin.fr/news-pole-emploi-recrute-controleurs-chomage

    Das Arbeitsamt kann die Datenbank aller in Frankreich existierenden Bankkonten (FICOBA = fichier des comptes bancaires) von Arbeitslosen einsehen. Das ist die Datenbank, die auch die Steuerfahndung und die Verfolgungsbehörden bei Verdacht auf Betrug nutzen:

    https://www.cbanque.com/actu/41045/pole-emploi-autorise-a-consulter-le-fichier-des-comptes-bancaires

    Es ist allerdings richtig, dass ein Teil der Arbeitslosen Monate, manchmal ein Jahr lang keinen Kontakt mit dem Arbeitsamt hat; dafür werden andere engmaschig kontrolliert.

    Das einzige was es nicht gibt, sind 1-Euro-Jobs.

    Es gibt aber einige Départements, die in konservativer Hand liegen, wo die Sozialhilfe (RSA) nur gegen eine ehrenamtliche Tätigkeit gewährt wird. Eine Klage vor dem Regierungsrat (Conseil d’État), dass das verfassungswidrig ist, war erfolglos.

    https://www.unccas.org/benevolat-et-rsa-ce-que-dit-le-conseil-d-etat

    Es ist schwer, an globale Zahlen der Sanktionsstreichungen von Sozialhilfe zu kommen (Anzahl Streichungen pro Jahr, Frankreich). Ich finde nur Artikel für Monate für einzelne départements.

    Dann gibt es noch das Problem der Nichtinanspruchnahme von Sozialleistungen obwohl man die Bedingungen für ihren Erhalt erfüllt. Das Phänomen ist bekannt, die Gründe dafür sind vielfältig, die Zahlen erschreckend hoch. Sie schwanken je nach Sozialleistung grob gesagt zwischen 30 und 65 Prozent. Der Staat spart dadurch viel Geld.

    (Deshalb sind die anklagenden Äußerungen mancher konservativer Politiker zu Sozialbetrug und -schmarotzern im Zusammenhang zu Arbeitslosen unpassend. Sie erhöhen nur das Stigma, welches mit Sozialleistungen verbunden ist und die Scham, sie zu beantragen.Natürlich gibt es immer ein paar Betrüger und die soll man verfolgen. Es ist aber unangemessen, dieses Randphänomen zu instrumentalisieren, um sozial Schwache zu diskreditieren.

    Hier ein offizielles Dokument für 2011 zur Nichtinanspruchnahme von Leistungen:

    http://www.cnle.gouv.fr/IMG/pdf/non_recours.pdf

    Eine letzte Bemerkung zum Regierungsstil von Macron.

    Meiner Meinung nach verheerend war die Symbolik der ersten Maßnahmen Macrons bei Amtsbeginn: die Erlassung der Reichensteuer (ISF = Impôt de solidarité sur la fortune) bei gleichzeitiger Kürzung des Wohngeldes mit der Rasenmähermethode um 5 Euro pro Monat:

    https://www.lemonde.fr/logement/article/2017/07/22/matignon-annonce-que-l-aide-personnalisee-au-logement-diminuera-de-5-euros-par-mois-des-octobre_5163855_1653445.html

    Wie sollte der Bürger das anders verstehen als: den Armen, die nicht genug Geld haben um ihre Miete zu bezahlen, nehmen wir 60 Euro pro Jahr weg, den Reichen erlassen wir die Steuern für ihre Millionen, die sich “von allein” vermehren (Zinsen, Aktienerlöse etc.)

    Diese Geste war dumm, dreist, eine Provokation.

    Jetzt hat die Regierung Macron die TÜV-Kontrolle ab 2019 verschäft, mit dem Ziel, ältere Autos aus dem Verkehr zu ziehen. Diese Maßnahme wurde durch die Proteste der Gilets jaunes zurückgenommen.

    Die Nutzung von Fahrzeugen, die 20 Jahre und älter sind, dürfen ab Juli 2019 im Großraum Paris zwischen 8 Uhr und 20 Uhr nicht mehr fahren. (Wie die Regelung in anderen großen Städten Frankreichs ist, weiß ich leider nicht). Dann wurde noch die Kraftstoffsteuer erhöht.

    Dass dann Leute, die gerade so über die Runden kommen und auf ihr billiges, älteres Auto angewiesen sind, um zur Arbeit zu kommen sauer werden, ist verständlich. Den Umweltschutz muss man sich leisten können, es genügt nicht, ihn zu dekretieren.

    Gruß

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