WR1503 Reden über Ostdeutschland

Bitte entschuldigt die gelegentlichen Tonstörungen

Michael Lühmann ist Politikwissenschaftler und war bis 2022 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Seitdem sitzt er für die Grünen im Niedersächsischen Landtag. Wir reden über seine wissenschaftliche Arbeit, in der er sich überwiegend mit Ostdeutschland beschäftigt hat.

Darin: Franz WalterPeter LöscheLeipzig-ConnewitzSamisdatWahl in SonnebergProzess gegen Lina E.LorenzianerGeschlossenes rechtsextremes Weltbild – Frauenkirche in DresdenDierk Borstel (hat über M-V geforscht) – Rotes SachsenIlko-Sascha Kowalczuk  (u.a. “Die Übernahme Ostdeutschlands”) – Robert Havemann GesellschaftVera LengsfeldSiegmar FaustEckhard JesseJana HenselMartin MachoweczWir sind der OstenDritte Generation OstdeutschlandBlühende LandschaftenOskar LafontaineIngrid Matthäus-MaierTreuhandanstaltKurt BiedenkopfBernhard VogelSelbstverbrennung Oskar BrüsewitzRudolf SeitersGünther Krause

Lektüre: Clemens Meier: Als wir träumten* – Peter Richter: 89/90* – Konrad Weiß: Die neue alte Gefahr. Junge Faschisten in der DDR – Levitzky, Ziblatt: Wie Demokratien sterben* – Daniel Schulz: Wir waren wie Brüder* – Tobias Dürr, Tanja Busse: Das neue Deutschland* – Anne Rabe: Die Möglichkeit von Glück* – Ingo Schulze: Neue Leben* – Dirk Oschmann: Der Osten: eine westdeutsche Erfindung* (Stark kritisiert, u.a. von Hintz, Bittner, Rabe) – Lühmann (Zeit): Sehnsucht nach dem starken Mann (Zeit), Ostdeutsche Lebenslügen (Blätter), Pegida passt nach Sachsen (Zeit) – Clemens Villinger: Vom ungerechten Plan zum gerechten Markt*, Die lange Geschichte der Wende* – Hendrik Bolz: Nullerjahre*

TV-Serie: Warten auf’n Bus

Die anderen Ost-Sendungen:
Das ostdeutsche GefühlDie Übernahme OstdeutschlandsDie verlorene Revolution

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19 Gedanken zu „WR1503 Reden über Ostdeutschland

  1. Angelika

    Eine Top-Episode. Holgi kam kaum zu Wort, hat aber genau die richtigen Fragen gestellt. Für mich Wessi, der dachte viel vom Osten zu wissen, wurde so Vieles erklärt. Eigentlich wusste ich nicht so viel.

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    1. kilosierra

      Ehrlich? Für mich war die Episode eine Katastrophe. Holgi hätte viel stärker hinterfragen und lenken müssen. Für mich Ossi, der hoffte endlich mal eine Antwort zu bekommen, wurde nichts erklärt. Es hat sich nur bestätigt, das “über” den Osten zu reden nicht hilft.
      Holgi hätte mal besser an seinem Prinzip festgehalten nicht mit aktiven Politikern zu sprechen. Hr. Lühmann ist an keiner Stelle auch nur ansatzweise mit wissenschaftlichen Fakten gekommen, sondern hat aus seiner Lebensgeschichte zitiert (“also meine Verwandschaft hat sich ja nicht impfen lassen”), hat irgendwelche Gerüchte verbreitet (“es soll da ja Studien geben, die einen Zusammenhang zwischen einer Tallage und der Einstellung zeigen”) und biegt sich dann auch noch selktivausgewählte Fakten irgendwie zurecht. Besonders deutlich beim Vergleich Freital, Hoyerswerda und Rostock. Wir vergleichen also eine Stadt im Speckgürtel Dresdens mit einer Stadt in der Lausitz, deren Einwohnerzahl sich in 20 Jahren halbiert hat und einer Großstadt mit Uni in Mecklenburg. Gut kann man machen. Leider passt die Behauptung, dass in Hoywoy wegen der besseren Erinnerungskultur weniger AfD gewählt wird als in Freital nicht zu den Wahlergebnissen. Da sind beide Städte gleichauf (https://de.wikipedia.org/wiki/Ergebnisse_der_Kommunalwahlen_in_Hoyerswerda; https://de.wikipedia.org/wiki/Ergebnisse_der_Kommunalwahlen_in_Freital#2019). Rostock ist als Großstadt mit Sicherheit soziologisch anders zu bewerten, wenn man aber zum AfD-Ergebnis die Stimmen der “Rostocker Bürger” und die der “Unabhängige für Rostock” (beide auch eher rechts angesiedelt) dazunimmt, kommt auch da auf fast 20% der Wähler, die den “normalen” Parteien nicht mehr vertrauen. Aber das es vielleicht klitzekleine Unterschiede in der Wirtschafts- und Eigentumsstruktur zwischen Ost und West geben könnte? Ja, ja, ganz schade was die Treuhand so gemacht hat, aber nun ja…
      Was Hr. Lühmann den Ostdeutschen unterstellte, nämlich “eigentlich den Wessi verkloppen” zu wollen und das es “eigentlich Osteuropäer sind und dafür benehmen sie sich eigentlich ganz gut” war dann doch eine wichtige Erkenntnis. Vielleicht ist es ja die Verachtung der Wessis dem Osten gegenüber, die (um in der Argumentation des Gastes zu bleiben) einerseits davon ablenkt sich mit dem eigenen Versagen auseinandersetzen zu müssen, die bundesdeutsche Gesellschaft nicht an die Gegebenheiten des 21. Jahrhunderts angepasst zu haben und die gleichzeitig eine Aufwertung der eigenen Realität ermöglicht. Wie wäre es denn mal “mit” dem Osten zu reden. Und zwar in einer Art, dass auch der Westen mal bereit ist seine Positionen und sein Handeln zu überdenken. Und da ist es mMn ein ganz schlechter Gesprächsauftakt, wenn man alles schon weiß.

      P.S.: Du willst mehr über den Osten wissen? Dann komm doch her. 3/4 der Menschen wählen keine Nazis, Arbeitsplätze gibt es zuhauf, die Innenstädte sind schön, es liegt kein Kaugummipapier rum und Straßenbahnen gibt es sogar auch.

    2. Stefan Schmidt

      “kilosierra” hat schon vieles Richtiges gesagt. Was mir noch aufgefallen ist, dass Michael Lühmann die Religionsferne der DDR-Bevölkerung (Ich glaube, er nannte es “Entkirchlichung”) ansprach. Und das sei seiner Meinung nach Schuld an der erhöhten Fremdenfeindlichkeit.

      In der VR Polen war die Bevölkerung immer streng gläubig und total verkirchlicht. Und sie sind es heute wohl auch noch. Und trotzdem wählt die Bevölkerung dort wesentlich rechter als die gottlosen Ostdeutschen.

      Wie wäre es mal, wenn Holger Klein seinen ehemaligen FRITZ-Kollegen Jürgen Kuttner interviewt? Das wäre richtig interessant.

    3. Tobias

      Kilosierra ist doch teil des Problems. Teil eines Ostdeutschenmilleus das sich mehr an dem Aufzeigen des rechtsextremen Geschwürs stört als an dem Geschwür selbst. Gleiche Haltun hat man ja im Spreewald von der Zivilgesellschaft gesehen als die zwei Lehrer von den Faschisten vertrieben werden.
      Also kurz: Kilosierra ist Teil der 3/4 Ostdeutschen die nur zu gerne wegschauen und relativieren während die Metastasen des Feindes gedeihen.

  2. Turtle

    Vielen Dank für diese Folge!

    Meine Biographie ähnelt in Teilen der von Hr. Lühmann, die Beschreibung als westdeutsch nachsozialisierte Ostdeutsche kann ich für mich auch annehmen. Ich bin in Jahr jünger und am Ende der Welt kurz vor der polnischen Grenzen (heute Sachsen, früher Bezirk Cottbus) aufgewachsen. Meine Erinnerungen an die Wende sind ein Besuch in West-Berlin, eine Reise nach Minsk um Freunde meiner Eltern zu besuchen und dass es plötzlich andere Produkte in der Kaufhalle gab. Von Protesten u.ä. kam bei uns im Wald aber nix an.

    Mein Heimatort ist einer von denen, die seit der Wende über 50% der Einwohner*innen verloren haben und das ist durchaus tragisch und ich glaube nicht, dass das umkehrbar ist.

    Meine Familie war ein bisschen ungewöhnlich, da meine Eltern beide ihren Job behalten haben und keinen Bruch in ihrer Erwerbsbiografie erfahren haben. Ich bin links-sozialistisch politisiert worden, nsbesondere mein Vater war einerseits nie glücklich mit der fehlenden Demokratie in der DDR aber ein Kapitalismusfan ist er auch nicht. Ich bin aus Protest gegen den Auslandseinsatz der Bundeswehr im Kosovo sogar in die PDS eingetreten, aber da ist nichts Politisches passiert. Die Ortgruppe war im Wesentlichen dafür verantwortlich die alten SED-Mitglieder mit Kaffeekränzchen bei Laune zu halten. War wahrscheinlich auch nicht schlecht, aber für eine 16jährige mit Idealen eher nicht so günstig. Der lokale Jugendclub und die Disco waren Nazizone und sofern man nicht mindestens Mitläufer war, gab’s da auf die Fresse. Ich habe da nie einen Fuß reingesetzt. Ich hatte allerdings auch keine Angst auf die Straße zu gehen, als weißes, modisch ziemlich langweiliges Mädchen ohne bunte Haare hatte ich tatsächlich nicht viel zu befürchten.

    Nach der Schule bin ich dann nach Freiberg an die Bergakademie gegangen und bin dort direkt zum Studentenrat gegangen und wollte mitmachen. Die nächsten Wahlen waren am Ende meines 1. Semesters und ich wurde gewählt. Wir haben sehr viel Politik gemacht (u.a. haben studentische Proteste in Sachsen die Studiengebühren verhindert) und ich war auch bei der lokalen Antifa aktiv. Wir haben ein linkes Magazin rausgegeben, Demos organisiert, usw. und waren natürlich auch in Dresden und Leipzig auf Demos. Das Intensivste war immer Februar in Dresden.
    Ich habe in dieser Zeit gelernt, dass Konservative (egal ob in CDU oder SPD) schlicht und ergreifend die Nazis nicht sehen wollten und Kritik an ihrem Umgang mit denen wurde als “undemokratisch” abgewürgt. Und ich gebe Eckard Jesse daran Mitschuld, das Wort “Hufeisentheorie” macht mir heute noch Pickel. Wobei man sagen muss, das Verhalten der CSU in Bayern ist nicht viel anders.

    Seit fast 15 Jahren lebe ich jetzt in Nürnberg. Es war eine berufliche Entscheidung und nicht unbedingt eine Flucht in den Westen. Mittlerweile muss ich aber sagen, dass mich keine 10 Pferde mehr nach Sachsen zurückkriegen. Immer wenn ich da bin, fühlt es sich durchaus noch wie Heimat an, aber es ist auch irgendwie fürchterlich homogen. Selbst verglichen mit der Spießigkeit von Nürnberg wäre mir das auf Dauer zu langweilig.

    Ich habe meinen westdeutschen Gatten lustigerweise im Studium kennengelernt und er hat den Osten auch ein paar Jahre live erlebt. Ihn zieht da auch nix mehr hin. Wir stellen auch nach über 15 Jahren Beziehung immer wieder fest, dass wir sehr unterschiedliche Kindheitserinnerungen haben.

    Ironischerweise ist mein Vater heute sämtlichen Verschwörungserzählungen verfallen und wählt vermutlich AfD, wir haben seit 2 Jahren keinen Kontakt mehr. Meine Mutter ist ganz anders drauf und ich denke, hätten sich meine Eltern nicht getrennt, wäre er heute wahrscheinlich auch nicht so.

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  3. Inside-man

    Das war wirklich ein tolles Interview, es hat mich an vielen Stellen zum Nachdenken bewegt, das werde ich wohl zweimal hören um auch die vielen angesprochenen Themen zu erfassen. Vielen Dank dafür

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  4. HS

    Vielen Dank an Holgi und Michael für diese Sendung.

    Danke Holgi auch für die anderen Sendungen.
    Als Ossi im Westen sucht man ja manchmal nach seiner Identität (wenn auch nicht verzweifelt, nur Erinnerungen und Kindheiterfahrungen sind Mal stärker anders als bei dem Peers) und beim reflektieren hierüber helfen die Gespräche die Holgi führt. Helfen Worte zu finden und manche Aspekte anders zu verstehen. Einfach Danke.

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  5. Karsten

    Es ist echt faszinierend, wie ähnlich unsere Biografien und Erfahrungen sind. Danke für die Einblicke, auch in meine eigene Vergangenheit.

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  6. Peter

    “kilosierra” hat ja schon vieles richtig gesagt. Aber ich kann mich nicht zurückhalten und muss meinen Senf auch noch dazu geben…

    Also, was ich in dieser Folge gelernt habe:
    – Ist der Osten rechts? Ja.
    – Was kann man dagegen tun? Keine Ahnung.

    Letztlich könnte man das als Bankrotterklärung der Politikwissenschaft deuten. Wenn die schon nicht wissen, wie man gegen rechtes Gedankengut ankommen kann, wer dann? (Und vor allem, warum soll so jemand es dann als Politiker besser machen? Vielleicht haben sich deswegen so viele Grüne der Waffenlobby zugewandt, weil das einfacher ist?)

    Meine eigene (naive) Idee dazu ist ja, dass heute fast alles und jeder als “rechts” gebrandmarkt wird. Von Friedensaktivisten und Impfgegnern (auch hier im Gespräch), über Giffeys und Wagenknechts und natürlich CDU/CSU, bis zu Leuten, die Gendern blöd finden oder sonstwie nicht im Mainstream mitschwimmen wollen. Dann könnte mit der Zeit der Eindruck entstehen, dass auch die AfD nur eins von vielen rechten Elementen in D ist und gar nicht wirklich so schlimm. Ich nehme übrigens auch an, dass zwar eigentlich alle wissen (könnten), dass etliche AfDler rechtsextreme Äußerungen getätigt haben. Welche genau das aber waren, wird kaum jemand konkret nachvollzogen (selbst gehört oder als Zitat gelesen) haben. Auch deshalb erscheint es vielen vielleicht nicht schlimm genug, sondern immer noch als eine Wahl-“Alternative”.

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    1. holgi Beitragsautor

      “Rechts” ja eindeutig definiert. Darum muss man da auch nix “brandmarken”, sondern braucht bloß zu beschreiben. Wer sich angesprochen und “gebrandmarkt” fühlt, ist herzlich eingeladen, darüber nachzudenken, warum das so ist.

  7. Kai

    Generell fand ich das Interview großartig.

    3 Aspekte:

    – Es ist nicht die Aufgabe dieses Gespräches, dass der Interviewte wortwörtlich aus seinen Studien inclusive Fußnoten zitiert.

    Es ist ein lockeres Gespräch voll von Referenzen geworden, die auch in den Shownotes verlinkt sind. Jeder kann das über die Shownotes nachlesen, wenn derjenige denn möchte. Ich finde das gerade durch das lockere Gespräch fesselnd. Die exakten Fakten sind verlinkt.

    – Viele Aspekte zur Regionalität in Ostdeutschland waren für mich neu, einfach weil ich halt nicht in Mecklenburg-Vorpommern gelebt habe. Andere Aspekte habe ich selber erlebt. Über viele Sachen habe ich zwar schon nachgedacht, aber vlt. nicht in der Form wie jemand, der in dem Gebiet geforscht hat.

    – Nachdem ich dieses Interview hier hörte, hörte ich beim Hotel Matze #247 das Interview mit Dirk Oschmann. Also wenn hier jemand Michael Lühmann autobiografische Blindheit vorwirft, dann sollte er mal das Interview mit Dirk Oschmann hören. Generell keine schlechte Idee. Er wiederholt zumindest in diesem Interview (das Buch kenne ich nicht) doch sehr die Opfergeschichte, dass die großen Probleme durch die Wende kamen. Dass Michael Lühmann mal regionale Aspekte, die schon vor der Gründung der DDR und vor der Wende bestanden, mit einbezieht, finde ich sehr wichtig. Dirk Oschmann wiederum kommt im ganzen Interview aus seiner Abwehrhaltung nicht heraus, obwohl Matze Hielscher für seinen unaufgeregten Interviewstil bekannt ist.

    Für mich ist das ein plakatives Beispiel der beiden aufeinander treffenden Grundeinstellungen. Die Wahrheit lieg, wie immer, irgendwo dazwischen.

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  8. Sarah

    So sympatisch wie mir Herr Lühmann ist, aber an einigen Stellen scheint er mir doch unreflektiert zu sein. Zum einen ist er mir zu unkritisch, was linke Demonstrationen hier in Sachsen angeht. Die Gewalt kommt da von beiden Seiten. Solche Leute wie Jürgen Kasek wollen diese Bilder. In meinem Stadtteil wurden in der Nacht zuvor vier Autos durch Brandstiftung zerstört. Dahinter steckt also ein strategisches Vorgehen und keine Reaktion auf Polizeigewalt, die ich wie gesagt gar nicht abstreiten will.
    Die Verbindung zur Kirche sehe ich auch überhaupt nicht. Da hätte ich mir auch eine andere Reaktion von Holgi gewünscht, da er der Kirche doch sonst auch kritisch gegenübersteht.
    Das mit der Tallage Dresdens und der weiten Ebene Leipzigs als Erklärung für mentale Unterschiede kann ich so auch nicht stehen lassen. Ich habe hier in Leipzig schon mehr ausländerfeindliche Äußerungen vernommen als in Dresden.

    Was ich aus meinen Alltagsbeobachtungen sagen kann, ist eher weniger auf die Wendeerfahrung bezogen. Wirtschaftliche Benachteiligung oder verpasste Chancen sind für mich kein ausreichendes Erklärungsmuster für Ausländerfeindlichkeit oder ein generelles Misstrauen gegen “Die da oben”. Das ist eher so eine tiefsitzende Widerspenstigkeit gegen Veränderungen, die mir persönlich auch tierisch auf die Nerven geht. Wenn ich mir Frankreich und Italien ansehe, ist dieser extreme Konservatismus auch kein spezifisches Problem des ehemaligen Ostblocks.

    Ich hab für mich auch noch keinen Umgang mit diesem Konservatismus gefunden, aber sich moralisch darüber zu erheben, bringt auch niemanden weiter.

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    1. Sebi

      Es gibt schon einen deutlich wahrnehmbaren Unterschied zwischen Dresden und Leipzig. Der Opferkult was die Luftangriffe in Dresden anging war deutschlandweit einzigartig. Irgendwann war Dresden dann Ort der größten Naz-Demos in Europa. Ich kann mir kaum vorstellen, dass es in Leipzig oder anderen Großstädten in Deutschland so weit gekommen wäre. Dazu gibt es dort ein recht großes rechtes Bürgertum, dem das einfach egal war oder sogar Sympathie dafür hatte. Und neurechte bzw. neonazistische Symbolik ist im Stadtbild von Dresden auch deutlich schneller zu finden als in Leipzig. Das ist nur eine Tendenz, natürlich gibt es hier wie dort Nazis, Rassisten und Neurechte. Auf dem Land in Sachsen hat das teilweise nochmal eine ganz andere Qualität.

      Viele Leute führen das darauf zurück, dass es in Dresden schon immer stark um das Althergebrachte ging und das Neue abgelehnt wurde. Auf der anderen Seite wird von der weltoffenen DDR-Messestadt gesprochen. Vielleicht ist das auch Mythenbildung. Ich glaube aber, dass sich die Nazis vor einigen Jahren nicht umsonst das vermeintlich Linke Leipzig als Ort ihrer geplanten Übergriffe rausgesucht haben.

    2. Sarah

      Hallo Sebi,

      ich verstehe, dass die persönliche Wahrnung sehr unterschiedlich sein kann. Ich hab halt hier in Leipzig eher mit der einfachen Arbeiterschaft zu tun. Da hat fast jeder, der selbst aus der Region stammt, schon mal einen ausländerfeindlichen Spruch gebracht. So absurde Aussagen wie “Die Ukrainer bekommen jetzt die ganzen schönen Wohnungen.” Oder sogar “Soll doch mal einer die Baerbock abknallen.” Und wie mich diese Maskendiskussionen genervt haben. Der eine wollte mich gleich wegen Nötigung anzeigen.
      Es gibt sicherlich in Leipzig ein dominanter auftretendes Bildungsbürgertum, aber das sollte nicht darüber täuschen, was in anderen Teilen der Bevölkerung abgeht.
      Und eben jenes Bildungsbürgertum hat lange Leute hofiert, die am Tag X nur sich selbst feiern und dass sie auf der richtigen Seite stehen. Diesen Beitrag vom Spiegel fand ich sehr treffend: https://www.youtube.com/watch?v=WehP7ySVYVQ
      Ich finde es gut, dass der Oberbürgermeister dieses Verhalten verurteilt hat. In früheren Jahren wurde eher für die Demonstranten argumentiert. Mich würde interessieren wie Herr Lühmann dazu steht.

    3. Tobias

      Aber das zeigt doch mal wieder der Kern des Problems. Weniger der Faschistische Feind an sich, sondern eher an einer Mehrheitsgesellschaft die sich eher an verantwortungslosen Befindlichkeiten (Ablehnung von Gewalt) als an dem eigentlichen Problem stören

  9. Georg

    Es ist natürlich klar, dass man noch so sehr versuchen kann, zu differenzieren – man kann nicht über das Thema reden, ohne dass einige Ostdeutsche sich auf den Schlips getreten fühlen. So auch hier in den Kommentaren.
    Einige wichtige Dinge lassen sich aber nicht wegwischen. Der Osten hat in weiten Teilen genau die Politik gewählt, die viele heute so verbittert betrachten. Das Problem mit Rechtsradikalen wird im Osten tatsächlich – in der Tendenz – von Nord nach Süd krasser. Die evangelischen Kirchen sind vielerorts die einzigen noch präsenten demokratischen Diskursräume. Dass das in einigen evangelikal geprägten Gemeinden auch kippen kann, hat Lühmann auch erwähnt. Und bei aller Rücksicht auf die besonderen historischen Hintergründe und Erschwernisse vieler ostdeutscher Biographien: es gibt eben doch schlichtweg bei vielen Leuten im Osten einen fremdenfeindlichen Nährboden für den ganz expliziten Rassismus, den die afd zur Schau trägt.

    Ich teile letztlich die Ratlosigkeit über diese Leute. Meine Eltern haben zur Wende in meiner Heimatkleinstadt ganz aktiv aus dem Schutzraum der Kirche heraus die friedliche Revolution (mit)organisiert. Sie konnten noch Akten der Stasi aus brennenden Öfen retten. Die Akten haben später gezeigt, dass meine Eltern “zersetzt” werden sollten. Sie sind auf jeden Fall Wendegewinner. Aus dieser Perspektive ist es geradezu zum verzweifeln, wenn jetzt Menschen, die damals bestenfalls nur Mitläufer waren, die heutigen demokratischen Strukturen mit dem Unterdrückungsapparat von damals gleichsetzen, den sie als angepasste Bürger selten bis nie in wirklicher Härte zu spüren bekommen haben.

    Eine Sache, die ich generell als unterbeleuchtet betrachte: Wie sehr man es in den ersten 20 Jahren nach der Wende verpennt hat, den Rechtsextremismus im Osten von vornherein ernst zu nehmen und hart zu bekämpfen. Was die NPD für die spätere afd an Vorarbeit geleistet hat, ist nicht zu unterschätzen. Diese Partei konnte ganz offen hetzerische Aussagen verbreiten, Diskurse stören und mit dem Einzug in die Landtage ein staatlich finanziertes rechtsradikales Netzwerk weiter ausbauen. Man hätte diese Partei nie dulden dürfen. Das “sowas muss eine Demokratie aushalten”-Argument halte ich inzwischen für historisch widerlegt. Eine Demokratie muss Nazis aushalten, ja. Aber sie auszuhalten, muss für eine Demokratie bedeuten, deren politische Strukturen aktiv zu bekämpfen anstatt sie gewähren zu lassen. Das ist im Übrigen auch ein Fehler, der Ost und West eint. Das haben wir gemeinsam verbockt.

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  10. Viktor

    Vielen Dank für dieses tolle Gespräch! Ich bin fast genauso alt wie Michael Lühmann und komme aus Ostberlin und fand seine Perspektive und Erzählung sehr interessant und lehrreich.

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