Mit dem Marsch von Londonderry beginnt 1968 der Nordirland-Konflikt. Matthias von Hellfeld erzählt.
Die passende Ausgabe „Eine Stunde History“ läuft am 8. Oktober 2018 auf DLFnova.
Mit dem Marsch von Londonderry beginnt 1968 der Nordirland-Konflikt. Matthias von Hellfeld erzählt.
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Da ich mich seit gut einem Monat zum Studieren in Irland befinde und bis nächsten Juni auch nicht vorhabe das zu ändern betrachte ich den Brexit nichtmehr nur aus einer Perspektive der Brexitkritischen schadenfrohen Arroganz eines Kontinentaleuropäers. Nachdem ich kurz nach meiner Ankunft hier begriffen habe, dass der Brexit während meiner Zeit hier stattfindet habe ich angefangen mich intensiver mit den Auswirkungen auf die Republik Irland und der Grenzfrage auseinanderzusetzen und dachte eine kleine Einordnung aus einer “irischen” Perspektive kann zu dieser Folge nicht schaden.
Tatsächlich ist zumindest in der hiesigen Medienöffentlichkeit die Grenzfrage das entscheidende Brexitthema. Bisher ist es erklärte EU Verhandlungsposition, dass ein Brexit Deal nur mit der Weiterführung einer offenen innenirischen Grenze zustandekommen wird. An dieser Stelle muss ich auch Matthias Einschätzung, dass die EU ohne Deal keine offene Grenze dulden kann infrage stellen. Es gibt in der ganzen Debatte nämlich ein Konstrukt namens Backstop – das mir, bevor ich mich mit der irischen Perspektive beschäftigte, vollkommen unbekannt war. Dieser Backstop ist ein Konzept, mit welchem im Falle des Nichtzustandekommens eines anderen Deals eine offene Grenze gewährleistet wird. Dieser Backstop ist auch ein von der Europäischen Kommission anerkanntes Konstrukt. Von daher fällt es mir schwer mir vorzustellen, dass die EU Die Republik Irland in der Grenzfrage hängen lässt, falls es zu einem No Deal Brexit kommen wird. Was sicher nicht einfach wird, da Matthias natürlich recht hat, wenn er sagt, dass eine offene Außengrenze für die EU inakzeptabel ist. Der – mindestens genau so bescheuerte – Gegenvorschlag eine “Grenze” in der Irish Sea (also zwischen Nordirland und dem Rest des Vereinigten Königreichs) zu etablieren stößt erwartungsgemäß bei den nordirischen Unionisten, die Mays Regierung tolerieren und damit stützen, auf kategorische Ablehnung. Spannenderweise sind die Unionisten allerdings nicht Teil der britischen Regierung, was dazu führt, dass sie in den Verhandlungen mit der EU kein Mitspracherecht haben. Daraus resultiert ein – nennen wir es mal – angespanntes Vertrauensverhältnis zwischen der DUP und Downing Street.
Zur Frage, welche Auswirkungen ein No Deal Brexit jetzt auf die innerirische Grenze hat ist schwer zu sagen. Das Szenario einer tatsächlichen Grenze findet in der hiesigen Medienöffentlichkeit und im politischen Diskurs nicht statt. Ich weiß allerdings nicht, wie viel davon Optimismus und wie vie ein nicht Aussprechen des “Unaussprechlichen” ist. Genauso wenig ist eine Wiedervereinigung des Nordens mit der Republik ein öffentliches Thema. Das kann allerdings beides daran liegen, dass ich mich in Dublin befinde und die öffentliche Debatte hier zur Zeit sehr geprägt von der stattfindenden Wohnungskrise ist.
Zur “56% haben Remain gewählt und würden eine Rückkehr in die Republik und den damit verbundenen Verbleib in der EU begrüßen” Sache noch eine kleine Anekdote: Ich weiß von Nordiren, die in der Hoffnung auf das Scheitern des Brexit eine anschließende Wiedervereinigung “Leave” gewählt haben. Allerdings kann ich nicht sagen, wie weit das über anekdotische Evidenz hinausgeht und ob es eine ernsthafte “Dunkelziffer” von Remainern gibt.
Dass es zu einem Wiederaufflammen des Konfliktes kommen wird, sollte es in der Konsequenz des Brexit zu einer harten Grenze kommen erscheint mir allerdings sehr wahrscheinlich. In Nordirland ist die Gesellschaft teils immer noch sehr gespalten, was sich auch am Umstand festmachen lässt, dass es seit März 2017 keine nordirische Regierung gibt, weil sich DUP (Unionisten) und Sinn Féin (Nationalisten) in grundlegenden Fragen nicht einigen können.
Danke für diese interessante Perspektive. Und was soll dieses Konstrukt eines Backstops genau beinhalten?
Das scheint zur Zeit eines der großen Probleme zu sein. Der Backstop ist erstmakl nur die Willensbekundung von EU und UK, dass Nordirland Teil der Zollunion bleibt, sollte keine andere Lösung für die Innerirische Grenze gefunden werden. Der Entwurf zum Withdrawal Agreement[1] sagt folgendes zum Backstop:
With respect to the DRAFT PROTOCOL ON IRELAND/NORTHERN IRELAND, the negotiators agree
that a legally operative version of the “backstop” solution for the border between Northern Ireland
and Ireland, in line with paragraph 49 of the Joint Report, should be agreed as part of the legal text of
the Withdrawal Agreement, to apply unless and until another solution is found.
Der entsprechende Paragrapg 49 des Joint Report[2] liest sich wie folgt:
The United Kingdom remains committed to protecting North-South cooperation and to its guarantee of avoiding a hard border. Any future arrangements must be compatible with these overarching requirements. The United Kingdom’s intention is to achieve these objectives through the overallEU-UK relationship. Should this not be possible, the United Kingdom will propose specific solutions to address the unique circumstances of the island of Ireland. In the absence of agreed solutions, the United Kingdom will maintain full alignment with those rules of the Internal Marketand the Customs Union which, now or in the future, support North-South cooperation, the all-island economy and the protection of the 1998 Agreement.
tl;dr: Backstop bedeutet, beide Parteien sind sich irgendwie einig, dass die innerirische Grenze offen bleibt, aber wie genau weiß man noch nicht.
[1] https://ec.europa.eu/commission/sites/beta-political/files/draft_agreement_coloured.pdf
[2] https://ec.europa.eu/commission/sites/beta-political/files/joint_report.pdf
@Manu
Besten Dank für die Erläuterung. Für etwas, was man gemeinschaftlich gerne erreichen möchte, ohne zu wissen, wie das funktionieren soll, finde ich die Bezeichnung “anerkanntes Konstrukt” ehrlich gesagt etwas hochtrabend. Dann ist die Quadratur des Kreises auch ein anerkanntes Konstrukt. (Genauer gesagt: War es bis zum mathematischen Beweis ihrer Unmöglichkeit.)
Eine kleine Korrektur. Die nordirische Grenze wird nicht zur Grenze des Schengenraums weil Irland gar nicht im Schengenraum ist.
Vielen Dank für die Sendung. Es ist wunderbar, dass Matthias von Hellfeld wieder an Bord ist. Auch ich wünsche ihm auf diesem Weg gute und vollständige Genesung.
Eine kleine Anmerkung: Ein paar Mal hört es sich so an, als würde die irisch-nordirische Grenze durch den Brexit zu einer Außengrenze des Schengenraums. Das ist so aber nicht richtig. Weder Irland noch das Vereinigte Königreich sind derzeit Teil des Schengenraums. Beide Staaten kooperieren lediglich mit den Schengen-Vollmitgliedern, führen aber Grenzkontrollen durch, wenn Personen aus Schengen-Staaten einreisen. Solange Irland nicht dem Schengener Abkommen als Vollmitglied beitritt, wird also die innerirische Grenze nicht zu einer Außengrenze des Schengenraums, wohl aber – was schlimm genug ist – zu einer EU-Außengrenze.
Vielen Dank für die Sendung. Es ist wunderbar, dass Matthias von Hellfeld wieder an Bord ist. Auch ich wünsche ihm auf diesem Weg gute und vollständige Genesung.
Eine kleine Anmerkung: Ein paar Mal hört es sich so an, als würde die irisch-nordirische Grenze durch den Brexit zu einer Außengrenze des Schengenraums. Das ist so aber nicht richtig. Weder Irland noch das Vereinigte Königreich sind derzeit Teil des Schengenraums. Beide Staaten kooperieren lediglich mit den Schengen-Vollmitgliedern, führen aber Grenzkontrollen durch, wenn Personen aus Schengen-Staaten einreisen. Solange Irland nicht dem Schengener Abkommen als Vollmitglied beitritt, wird also die innerirische Grenze nicht zu einer Außengrenze des Schengenraums, wohl aber – was schlimm genug ist – zu einer EU-Außengrenze.
Als angehende Historikerin mit einem Faible für irische Geschichte freue ich mich sehr über diesen Beitrag, herzlichen Dank dafür!
Ich beschäftige mich gerade im Rahmen meiner Promotion mit den Gesellschaften Irlands und Nordirlands in den langen sechziger Jahren, genauer gesagt damit, welchen Effekt die innerirische Grenze auf die Jugendkulturen der beiden Staaten hatte. Ich betrachte also genaue die Zeit zu Beginn des Nordirlandkonfliktes, oder der “Troubles”, wie sie im Volksmund so treffend genannt werden, und muss sagen, dass mir die aktuelle Debatte um die Grenzfrage wirklich zu denken gibt. Ich muss meinem Vorredner Manu zustimmen, dass die Gesellschaft in Nordirland keineswegs als heterogen zu bezeichnen ist (aber welche Gesellschaft ist das schon?), und ich auch die Konsequenzen eines harten Brexits und die Reetablierung einer inneririschen Grenze fürchte. In diesem Juli eskalierten z.B. die Feierlichkeiten um “The Twelfth” [1] mehr als in den vorherigen Jahren, es wurden in Derry sogar Schüsse auf Polizisten abgefeuert. Darüber hinaus kam es letzten Monaten auch zu einigen Attentaten auf nordirische Politiker, die nach Ansicht der Irish Times den Zweck einer Art Warnschusses hatten: “The message was that they haven’t gone away, you know – they being republican dissidents who have never accepted the agreement. They remain highly marginalised but their existence remains a worrying reality 20 years after the Belfast Agreement.”[2]
Darüber hinaus gibt es in Nordirland auch solche in der Regel republikanische Splittergruppen, die weder die Regierung noch die Polizei als Autoritäten akzeptieren und sich stattdessen auf ihre eigene Justiz verlassen. So zum Beispiel der Fall eines drogendealenden Teenagers in Derry, der von seiner eigenen Mutter paramilitärischen Schützen vorgeführt wurde, um ihm die Kniescheiben zerschießen zu lassen, mit dem Hintergedanken einer härteren Strafe zu entgehen. Erschreckenderweise ist die Praxis solcher paramilitärischen Bestrafungsrituale in Nordirland laut einer kürzlichen Studie in den vergangenen vier Jahren um ca. 60 % angestiegen.[3]
Auch wenn dadurch meine eigene Forschung einiges an aktueller Relevanz gewinnt (was für Historiker ja quasi immer ein springender Punkt ist), bereitet mir die Diskussion um die innerirische Grenze, die ja im Grunde mehr oder weniger in einer Sackgasse steckt, wirklich Bauchschmerzen.
[1] Feiertag der Protestanten, da er den Sieg William of Oranges über die Katholiken im Battle of the Boyne 1690 zelebriert.
[2] https://www.irishtimes.com/opinion/price-of-maintaining-belfast-agreement-is-eternal-vigilance-1.3572945
[3] https://www.irishtimes.com/culture/film/why-a-derry-mother-took-her-son-to-be-kneecapped-1.3432488